„ICH BIN HIER, WEIL JESUS HIER WÄRE“
Neue Hoffnung für Frauen in Zwangsprostitution
16. MAI 2022 | DEUTSCHLAND
Es wird langsam dunkel in Berlin-Schöneberg. Emily La Bianca, Leiterin von unserem Projekt Alabaster Jar, schließt die Tür vom Café Neustart auf, das mitten auf der berühmt berüchtigten Kurfürstenstraße liegt, Berlins bekanntestem Straßenstrich. Auf den Stufen vor dem Café sitzen bereits ein paar Frauen, die fragen, wann das Café heute öffnet. Emily lächelt sie an, umarmt einige altbekannte Gesichter und lädt sie dazu ein, etwas später auf ein warmes Getränk, einen Snack und gemeinsames Singen hereinzukommen.
Das Café ist einfach, aber gemütlich eingerichtet. Links und rechts stehen Sofas und Sessel, die zum Verweilen einladen. An einer Wand hängt eine Leinwand, auf der in fünf Sprachen ein Bibelvers prangt: „Was ich euch hinterlasse, ist mein Frieden. Ich gebe euch einen Frieden, wie die Welt ihn nicht geben kann. Lasst euch nicht in Verwirrung bringen, habt keine Angst.“ (Johannes 14,27)
Der Raum besitzt eine kleine Küchenzeile und über eine kurze Treppe gelangt man zu den Toiletten, einem Schrank voller gespendeter Kleidung und einem kleinen Büro für die Mitarbeiter. Alabaster Jar nutzt hier die Räumlichkeiten ihrer Partnerorganisation „Neustart e.V.“ Beide Organisationen arbeiten mit Frauen in Zwangsprostitution, jeweils an verschiedenen Abenden unter der Woche.
Das Café ist klein und hat doch genau die richtige Größe, um jeder Person, die über die Türschwelle tritt ein Gefühl von einem Zuhause und Geborgenheit zu geben.
Emily macht uns beiden einen Tee und wir setzen uns auf eines der Sofas. Ich stelle ihr viele Fragen und sie erzählt von sich, den Frauen, ihrer Arbeit mit Alabaster Jar und welche Motivation dahinter steckt.
Emily kam vor vier Jahren, mit nur 22 Jahren, als Missionarin aus den USA nach Deutschland. Es war schon längere Zeit ihr Wunsch gewesen mit Frauen zu arbeiten, die Traumata erlebt hatten. Bei einem Besuch in Hamburg fuhr sie durch das Rotlichtviertel: „Das war ein Weckruf für mich. Ich hatte Prostitution in der Öffentlichkeit zuvor noch nie gesehen.“
Der Anblick der Frauen auf der Straße hatte sie zutiefst bewegt und ließ sie nicht mehr los. Auf der Suche nach einer gemeinnützigen Arbeit in Deutschland stieß sie auf Alabaster Jar und wusste sofort: „Das ist für mich.“
Das Ziel von „Alabaster Jar“
Das Leben als Prostituierte ist hart – in den meisten Fällen sind diese Frauen isoliert und Gewalt oder anderen Gefahren schutzlos ausgeliefert. Rund 89 Prozent der Frauen geben an, dieser Welt entkommen zu wollen, doch wissen nicht wie. Das Ziel von Alabaster Jar ist es, das Leben von Frauen, die in die Sexindustrie geraten sind, positiv zu verändern. Das tun wir mit diesem Projekt, indem wir ihnen die hoffnungsvolle Botschaft von Jesus und seiner Liebe mitten im Berliner Rotlichtviertel weitergeben. Wir bieten den Frauen einen sicheren Ort an, wo wir ihnen zuhören, vertrauensvolle Beziehungen aufbauen und uns um ihre praktischen, emotionalen und geistlichen Bedürfnisse kümmern können.
Emily selbst tut diese Arbeit aus voller Überzeugung: „Gott hat für jeden Einzelnen gute Pläne und eine gute Zukunft. Außerdem sieht man in der Bibel, dass Jesus ein riesiges Herz für Frauen in gerade dieser Situation hatte. In Lukas 7, 36-50 zeichnet er ein Bild, in der er einer Prostituierten Liebe und Ehre erweist. Aus dieser Geschichte leitet sich der Name des Projektes, ‚Alabaster Jar‘ (Alabasterkrug mit Salböl), ab. Meine Motivation ist deshalb in einem Satz zusammengefasst, den einer unserer Ehrenamtlichen immer sagt:
Ich bin hier, weil Jesus auch hier wäre.“
Die Mehrheit der Frauen mit denen das Team von Alabaster Jar arbeitet, stammen, laut Emily, aus Osteuropa. Viele von ihnen kommen aus Ungarn, Bulgarien und Rumänien; einige wenige aus Deutschland. Sie sind zwischen 18 und 70 Jahre alt und landen aus verschiedenen Gründen auf dem Strich: Manche kommen freiwillig her, um ihre Familien zu unterstützen.
Sie geraten dann hier in Kontakt mit Zuhältern oder „Loverboys“, die ihnen die große Liebe vorgaukeln und sie dann in die Prostitution zwingen. Andere sehen diesen Job als einzige Möglichkeit, um ihre Familie durchzubringen. Wieder andere werden durch schlimme Umstände wie Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit, häusliche Gewalt, Korruption oder Menschenhandel dazu gezwungen, im Rotlichtviertel zu arbeiten und sehen es als einzige Chance, um zu überleben.
Die Nöte auf der Straße sind vielfältig. Im Alltag sind das oft Kleidung, Hygieneartikel, Hilfe bei Behördengängen und Ähnliches. „Wir helfen den Frauen auf praktischer Ebene, hören ihnen zu und bestärken sie in ihrer Würde und Einzigartigkeit.“ Darüber hinaus fehlt es oft an Hoffnung und Perspektive. Mangelnde Bildung, bürokratische Hürden, ein geringes Selbstwertgefühl und Scham sind Hindernisse, um an eine bessere Zukunft glauben zu können. Die meisten befinden sich in einem „Teufelskreis“, den sie aus eigener Kraft nicht durchbrechen können:
„Diese Frauen brauchen, genau wie jeder andere Mensch, Jesus und die Hoffnung, die er bringt.“
Die Liebe Gottes, die Emily und die anderen Mitarbeiter von Alabaster Jar mit den Frauen teilen und ganz praktisch vorleben, geht Hand in Hand mit direkten Hilfsangeboten, die sie ihnen anbieten: „Wir arbeiten mit Partnerorganisationen zusammen, die Sozialarbeiter haben und mit denen wir die Frauen zusammen begleiten können. Manchmal treffen wir uns mit den Frauen auch einfach auf einen Kaffee und verbringen Zeit mit ihnen, begleiten sie zu Terminen oder helfen dabei Papiere auszufüllen.“
Emily brennt zu dem Thema noch etwas auf der Seele: „In unserer Arbeit mit den Frauen geht es immer nur Schritt für Schritt vorwärts. Es gibt eigentlich nie die eine Lösung für alle Probleme. Aber, es gibt immer etwas, was man machen kann. Wir unterstützen bei diesen Schritten und bieten den Frauen Freundschaft an – etwas, das vielen von ihnen fehlt.“
Einsätze & Kernpunkte der Arbeit
Es gibt drei verschiedene Arten von Einsätzen, die Emily und ihre Kollegen (die meisten von ihnen Ehrenamtliche) durchführen, um die Frauen zu erreichen: Caféeinsatz, Straßeneinsatz und der Bordelleinsatz.
Jeden Mittwochabend gehen ein oder zwei „Frontlineteams“ von jeweils drei ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen mit Körben voller Kaffee, Tee, Kakao, Schokolade, Hygieneartikeln und Handwärmern zu den Frauen, die auf der Straße auf Kunden warten. Dabei laufen die Teams meistens die gleiche Route durch das Rotlichtviertel: „Wir gehen auf die Frauen zu und fragen sie, ob sie etwas brauchen. Das ist der Türöffner, um mit den Frauen ins Gespräch zu kommen und Beziehungen zu bauen.“ Jedem Frontlineteam folgt normalerweise ein Gebetsteam, das im Hintergrund bleibt und mit Abstand für die Begegnungen und die einzelnen Frauen betet.
„Manchmal erleben wir echt coole Sachen. Es gibt eine Straße, auf der nur ungarische Frauen stehen. Diese Frauen schauten uns bei unseren Einsätzen für lange Zeit nicht einmal an und wollten nichts mit uns zu tun haben. Doch mittlerweile hat sich das geändert. Nach und nach fingen sie an Kaffee anzunehmen und mit uns zu reden.
Im letzten Jahr haben sogar drei der Frauen mit uns gebetet und Jesus in ihr Herz eingeladen. Bis zu diesem Punkt hat es zwei Jahre gedauert! Es lohnt sich dran zu bleiben.“
Bei den Straßeneinsätzen werden die Frauen in das Café eingeladen. Jeden Donnerstagnachmittag gibt es einen Cafeéinsatz, bei dem warmes Essen, gespendete Kleidung und ein offenes Ohr angeboten wird. „Das Café soll ein Ort sein, an dem die Frauen Ruhe finden können“, sagt Emily über diese für viele Frauen sehr wichtige wöchentliche Zeit.
Dann gibt es noch den Bordelleinsatz. Ungefähr einmal pro Monat geht ein kleines Team von Mitarbeiterinnen direkt in die Bordelle oder Stripclubs der Stadt. Meistens anlässlich eines besonderen Events, wie zu Weihnachten, Valentinstag oder dem Frauentag, bringen sie kleine Geschenke, wie Blumen, Schokolade, etwas Gebackenes vorbei und kommen dort mit den Frauen ins Gespräch.
„Als Alabaster Jar sind die Kernpunkte unserer Arbeit
- die Einsätze (auf der Straße, im Café und in den Bordellen),
- der Aufbau von Freundschaften, auch außerhalb der Einsätze,
- Kompetenzentwicklung, damit die Frauen auch langfristig erfolgreich und wirtschaftlich unabhängig sein können (ganz praktisch z. B. Deutschkurse vermitteln),
- Jüngerschaft, weil wir glauben, dass eine tiefe Beziehung zu Jesus Leben verändert
- und Prävention und Sensibilisierung. Wir wollen über das Problem der Zwangsprostitution und des Sexhandels aufklären.“
Die Zeit für das Interview mit Emily ist vorbei. Die ersten ehrenamtlichen Mitarbeiter für den abendlichen Straßen- und Caféeinsatz kommen an und gemeinsam bereiten wir alles vor und beten zusammen, bevor es losgeht.
Schließlich zieht das Einsatzteam los, um ihre Runde über die Kurfürsten- und Parallelstraßen zu machen und den Frauen einen heißen Kaffee, einen Snack oder ein liebevolles Wort anzubieten. Gleichzeitig öffnet Emily die Cafétür und nach und nach kommen Frauen herein und machen es sich auf den Sofas gemütlich. Einige bleiben nur wenige Minuten, andere wollen gar nicht mehr gehen. Emily nimmt ihre Gitarre in die Hand und singt einige Lobpreislieder für Gott. Die Texte zu den Liedern liegen auf den Tischen und die Frauen werden eingeladen mitzusingen. Und zwischendurch erfahren wir kleine Bruchstücke aus den Leben der Frauen, die nun hier im Café sitzen und auf der Straße arbeiten.
Da ist zum Beispiel P. Sie ist Anfang Vierzig und für die Mitarbeiter von Alabaster Jar eine alte Bekannte, da sie schon seit vielen Jahren regelmäßig im Café zu Besuch ist. Jahrelang war sie heroinabhängig, hat einen Entzug gemacht und raucht nun „nur noch“ Marihuana und trinkt Alkohol: „Irgendetwas brauche ich, um dieses Leben auszuhalten,“ erzählt sie uns. „Mit meinem Mann bin ich seit 20 Jahren zusammen. Er sitzt den ganzen Tag zuhause, arbeitet nicht und verlangt von mir, dass ich das Geld für uns und unsere Tochter nach Hause bringe.“
P. hat Angst vor ihrem Mann, häusliche Gewalt ist ein Thema und doch will sie ihn nicht verlassen, denn ihre kleine Tochter S. hängt da auch mit dran. Auf S. ist sie sichtlich stolz und als sie uns von ihr erzählt, leuchten ihre Augen auf. Beim gemeinsamen Singen hat P. Tränen in den Augen. Emily und eine weitere Mitarbeiterin umarmen sie und erzählen ihr von der Möglichkeit eines Mutter-Kind-Heimes, falls sie sich dazu entscheiden sollte, ihren Mann zu verlassen.
L. ist Anfang dreißig, wirkt aber mindestens zehn Jahre älter. Sie stammt aus Bulgarien und hat vier Kinder, die bei den Großeltern in der Heimat aufwachsen. Ihr Mann ist gewalttätig und momentan für mindestens zwei Jahre im Gefängnis, worüber L. sehr erleichtert ist, weil sie dann nicht in ständiger Angst vor ihm leben muss. Fast alles Geld, was sie auf der Straße verdient, schickt sie nach Bulgarien und ist damit die Hauptversorgerin der Familie: „Ich habe eigentlich keine andere Wahl, als hier zu sein. Auch wenn ich es aus tiefstem Herzen hasse, wie sollte ich sonst Geld verdienen? Ohne Schulabschluss, Berufsausbildung, ohne Sprachkenntnisse und mit meiner Vergangenheit? Ich vermisse meine Familie und meine Kinder so sehr und hoffe, dass ich sie bald wiedersehen kann.“
Das Alter von K. ist schwer einzuschätzen. Sie ist das erste Mal im Café und freut sich sehr über den heißen Kaffee und darüber, dass ihr hier jemand zuhört:„Es ist schön sich mit euch zu unterhalten. Das kenne ich so gar nicht.“
K. ist von Crystal Meth abhängig und obdachlos. „Ich weiß gar nicht, wie ich hier gelandet bin. Es war aus einer Notlage heraus. Manchmal frage ich mich, ob das alles nur ein schlimmer Traum ist und hoffe bald aufzuwachen.“ Emily bietet an, ihr eine Unterkunft für die Nacht zu besorgen, doch K. lehnt ab, möchte aber wiederkommen.
M. ist Anfang fünfzig und kommt oft zu Alabaster Jar. Sie ist den ganzen Abend im Café und singt fröhlich mit. Sie bittet um einen Schlafsack, da sie lieber auf der Straße schlafen will, obwohl sie ein kleines Zimmer hat. Sie hat Angst vor ihrem gewalttätigen Nachbarn.
Als das Café schließt, möchte sie am liebsten gar nicht gehen. Sie sieht glücklich aus und fühlt sich sichtbar wohl.
Genau das möchte Alabaster Jar sein: Eine Oase, ein Anknüpfungspunkt, ein erster Schritt raus aus der Zwangsprostitution – und näher zu Jesus.
Denn wenn er, Jesus, hier wäre, dann würde er diese Frauen nicht verurteilen. Er wäre bei ihnen, würde sie trösten, sie lieben, ihnen Mut zusprechen und sie darin bestätigen, dass ein ganz neues Leben für sie möglich ist.
Davon sind Emily und die anderen Mitarbeiter von Alabaster Jar überzeugt. Das ist die Motivation, mit der sie diese wichtige Arbeit tun.
Unterstütze Alabaster Jar Abonniere jetzt den „Alabaster Jar“-Newsletter