VIKTORIAS STORY
Wie ein Schuhkarton Teil eines Lebens wurde
28. AUGUST 2017 | UKRAINE & DEUTSCHLAND
Viktoria ist eine beeindruckende Person. Vielleicht nicht auf den ersten Blick – sie ist relativ klein, wirkt ein wenig schüchtern, hat einen braunen Lockenkopf und ein anziehendes Lächeln. Doch sobald sie anfängt zu sprechen, wird deutlich: Diese Frau hat Tiefgang. Sie ist mutig und selbstbewusst und besitzt einen starken Sinn für Gerechtigkeit.
Wir treffen uns in Eberswalde bei Berlin. Seit ungefähr einem Jahr wohnt sie hier zusammen mit ihrem Ehemann Samuel. Als sie mir ihre Geschichte erzählt, bin ich bewegt und dankbar und weiß: Das muss ich weitererzählen. Jeder, der bei „Weihnachten im Schuhkarton“ mitmacht, muss hören, was so ein kleines Geschenkpäckchen bewirken kann. Also höre ich zu, schreibe mit und verinnerliche ihren berührenden Lebenslauf.
Viktoria wurde 1986 in die unruhige Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik geboren: Es war das Jahr der verheerenden Tschernobyl-Atomkatastrophe und das Jahr, in dem Michail Gorbatschow als Generalsekretär der Kommunistischen Partei in Moskau anfing, die politische Landschaft der gesamten Sowjetunion auf den Kopf zu stellen. Es sollte aber noch einige Jahre dauern, bis sich seine Annäherung an den Westen, seine Politik von „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umstrukturierung) durchsetzte und in der Ukraine davon Auswirkungen zu sehen sein sollten.
Als Kind bekam Viktoria von alldem nicht viel mit. Sie lebte mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. „Ich erinnere mich nur noch, dass die hohen ukrainischen Politiker oft wechselten und jeder von ihnen uns Ukrainern ein besseres Leben versprach, sich für uns letztendlich aber lange Zeit nichts änderte.“ Das Leben in der kommunistischen Ukraine war geprägt von Überwachung, Korruption, Mangel an Lebensmitteln, Kleidung und vielem anderen, einer schwachen Wirtschaft, Hoffnungslosigkeit und einer unsicheren Zukunft.
Geborgenheit fanden sie und ihre Familie in einer Baptistengemeinde. Dort fühlten sie sich angenommen und angekommen. Viktoria liebte es, die Sonntagsschule zu besuchen und Geschichten über einen liebenden Gott zu hören, der seinen einzigen Sohn auf die Erde gesandt hatte, um die Menschen zu retten. Sie lernte begeistert Bibelverse auswendig und verbrachte in der Gemeinde viel Zeit mit ihren neuen Freunden.
Doch erst als die Schuhkartongeschenke kamen, verstand sie die Bedeutung von Gottes Liebe tatsächlich.
Sie war neun Jahre alt, als nach einem normalen Sonntagsschulunterricht Päckchen von „Weihnachten im Schuhkarton“ verteilt wurden. „Es war unglaublich! Wir staunten und konnten nicht glauben, dass Menschen, die uns nicht kannten, uns solche wunderbaren Geschenke machten!“ Viktoria öffnete ihren Schuhkarton sofort und nahm nach und nach die verschiedenen Dinge heraus: Süßigkeiten, Bleistifte, Hefte, ein Kuscheltier, Bücher, eine Taschenlampe und und und. Noch nie hatte sie so viele schöne neue Sachen auf einmal geschenkt bekommen! Viele dieser Dinge gab es in der Sowjetunion damals nicht oder waren den Reichen vorbehalten. Selbst Schulsachen waren Luxusartikel.
Viktoria begriff durch dieses wunderbare Schuhkarton-Geschenk: „Ich bin einzigartig und geliebt. Jemand der mich nicht kennt und mir trotzdem eine Freude machen wollte, hat mir etwas so Schönes geschenkt, ohne etwas von mir zurückzuerwarten.“ Und gleichzeitig war das Päckchen für sie auch eine Bestätigung, dass Gott sie kennt, liebt und nicht vergessen hat.
Als Viktoria 13 Jahre alt war, starb ihr Vater. Von nun an musste ihre Mutter allein für ihren beiden Töchter/die zwei Mädchen sorgen. „Gott trug uns durch diese schwere Zeit. Ohne ihn hätten wir es nicht geschafft.“, erinnert sich Viktoria.
Von den Büchern aus ihrem Schuhkarton inspiriert, entschied sich Viktoria nach der Schule Englisch und Deutsch zu studieren. Während ihres Studiums knüpfte sie außerdem Kontakte zu einer Kirchengemeinde in Kiew, die als geschulte Partner von „Weihnachten im Schuhkarton“ Päckchen in Waisenheimen verteilten. Mit Feuereifer beteiligte sie sich daran, wusste sie doch ganz genau, wie viel so ein liebevoll gefüllter Schuhkarton für ein Kind bedeutete. Dabei bemerkte sie auch das erste Mal, dass ihr Herz für Kinder schlägt und sie sich gut vorstellen konnte, eines Tages mit ihnen zu arbeiten.
Nach Abschluss ihres Bachelorstudiums zog es sie im Alter von 23 Jahren als Au Pair nach Deutschland, nach Bad Arolsen in Hessen. An ihrem ersten Sonntag in Deutschland besuchte sie den Gottesdienst einer Kirchengemeinde in dem Ort. Genau an diesem Wochenende fand ein Dankesgottesdienst statt, um den fleißigen Ehrenamtlichen und Päckchenpackern von „Weihnachten im Schuhkarton“ zu danken. Viktoria traute ihren Ohren kaum! Mit Tränen in den Augen entschloss sie sich, zehn Euro für den Transport der Päckchen zu spenden – viel Geld für sie.
Nach ihrer Zeit als Au Pair zog Viktoria nach Oldenburg und begann dort ein weiteres Bachelorstudium: Deutsch als Fremdsprache. Unter Tränen erinnert sie sich zurück, wie sie dort gleich in ihrem ersten Jahr in der Sammelstelle mithalf:
„Ich hatte selbst einen Schuhkarton bekommen und durfte nun mithelfen, anderen Kindern die gleiche Freude zu machen. Das war – und ist etwas ganz Besonderes für mich!“
Von ihrem ersten Gehalt ihres Minijobs an der Uni packte sie selbst zwei Schuhkartons. 70 von 400 Euro investierte sie in zwei Schuhkarton-Geschenke, von denen sie wusste, dass sie das Potential hatten, ein ganzes Leben zu prägen. Sie füllte die Päckchen so, wie sie sich damals ein Geschenk erträumt hatte: Ein Kuscheltier, ein kleines Täschchen, Zahnbürste und Zahnpasta, Schulblöcke und Stifte. Besonders wichtig war es ihr, eine persönliche Karte mit einem Foto in jeden Schuhkarton hineinzulegen. „Ich wollte mich damals so gern bei dem Päckchenpacker bedanken, hatte aber keine Kontaktdaten. Viele der anderen Kinder hatten Fotos und Briefe bekommen und das waren für die meisten ihre wertvollsten Geschenke.“
Während ihrer Zeit in Oldenburg lernte die junge Frau auch ihren heutigen Mann Samuel kennen und lieben. Im Sommer 2016 heirateten die beiden und zogen nach Eberswalde, in die Nähe von Berlin.
Heute ist Viktoria 31 Jahre alt und beginnt im September ihr Referendariat an einer Grundschule. Sie wird dort Deutsch unterrichten – etwas, was sie sich nie zu wünschen erhofft hätte. Ihre zwei Leidenschaften - Kinder und Sprachen - finden somit zusammen!
Sie müsse mir noch etwas zeigen, sagt sie mir, als sie mir ihre Geschichte zu Ende erzählt hat. Mit leuchtenden Augen holt sie aus ihrer Tasche einige Gegenstände: Einige zerfledderte Bücher, ein Notizbuch, aus dem die meisten Blätter bereits fehlen, Bleistifte, eine Taschenlampe zum Kurbeln und ein Lesezeichen mit einem Bibelvers. Es ist 22 Jahre her, als Viktoria ihr Schuhkarton-Geschenk erhalten hat und noch immer hat sie einige der Dinge, die sie damals erhielt. Sie hütet sie wie einen Schatz, denn ihr bedeutet jedes von ihnen unglaublich viel. „Der Schuhkarton war mehr als nur ein Geschenk. Er wurde ein Teil unseres Lebens.“